Donnerstag, 10. Dezember 2009
Kein Kompliment
"So you think the jews are the source of all evil in the world?" - "Yes."

Kurz nach unserer Ankunft in Pune habe ich an einem freien Nachmittag die Klappe des kleinen Couchtisches in unserem Appartment aufgemacht, in dem ich einen Stapel Bücher fand, darunter auch eine englischspachige Ausgabe von Mein Kampf. Später habe ich festgestellt, dass das keinesfalls ungewöhnlich ist, da dieses Buch hier in jedem x-beliebigen Zeitschriftenshop gekauft werden kann, allerdings als reine Textausgabe mit lediglich wenigen Erklärungen und selbst diese sind noch weit entfernt von einer kritisch-historischen Ausgabe. Gern steht dieser Titel auch an exponierter Stelle neben der letzten Veröffentlichung über Barack Obama und den Papst, was auch immer dieses Trio miteinander gemein haben mag ...

In der letzten Woche habe ich Darjeeling besucht, wo es das Himalayan Mountaineering Institut gibt, in dem man alles mögliche über die Geschichte des Bergsteigens und die Erkundungen des Himalaya erfahren kann. Ich war nicht drin, habe aber den Prospekt in die Hände bekommen, der u.a. mit einer Aufzählung einiger interessanter Ausstellungsstücke wirbt. Von den sechs genannten Exponaten ist das letzte ein VEB Carl Zeiss Jena Teleskop, das deswegen in der Ausstellung steht, weil es (angeblich) von Adolf Hitler stammt.

Die Swastika hingegen ist ursprünglich ein uraltes Symbol des Glücks und ist deshalb in Indien allgegenwärtig zu sehen, sei es an Hauswänden, auf Plakaten oder als simple Dekoration. In diesem Fall ist also keinerlei Verbindung zum Hakenkreuz beabsichtigt.

Wenn ich in Indien gefragt werde, woher ich komme ("What is your country?"), dann habe ich bislang ausnahmslos erfreute Reaktionen erlebt. Immer heißt es dann: "I like Germany!" Meistens wird dann von Fußball oder Autos geredet. Das mag z.T. pure Höflichkeit sein, z.T. ist dies aber wirkliche Sympathie. Und wenn die Diskussion etwas länger dauert, wird auch nicht selten erwähnt, was wir gemeinsam haben: die arische Rasse. Hmm. Das mag richtig sein, ist aber schon lange, lange her und mittlerweile haben wir wohl kulturgeschichtlich mehr, was uns unterscheidet, als dass wir noch Gemeinsamkeiten hätten. Und deshalb bin ich ja hier: Weil es mal ganz anders in Indien ist als in Europa.

Jetzt bin ich aus Darjeeling zurück, erkältet, da ich mehrere Tage lang Temperaturen von unter 30 Grad ausgesetzt war, und rufe also am Mittwoch schließlich den Arzt an, der gleich vorbeikommt. Ein netter älterer Herr mit Brille und dicker schwarzer Ledertasche, in der alle möglichen Pillen und Fläschchen rumfliegen. Nach kurzer Diagnose bekomme ich zunächst das indische Allheilmittel verschrieben: Antibiotika. Dazu Pillen gegen den Schnupfen und Hustensaft. Ersteres wollte ich nie, auf Letzteres vertraue ich irgendwie nicht, wird schon von allein besser werden. Außerdem war der ganze Arztbesuch ja nur Pflichtprogramm wegen der Arbeit. Ich bekomme eine Quittung, für die ich meinen Namen buchstabieren muss. "What is your country?" "Germany." Da hätte es doch diesen Nazi gegeben, der hieß auch so. - Also, der hieß nur ähnlich, und ansonsten besteht da keinerlei Verbindung. - Sind Sie denn nicht stolz auf Ihr Land? - Sicher bin ich stolz auf mein Land, aber bestimmt nicht stolz auf diesen Teil seiner Geschichte. - Warum nicht? Die Juden hätten doch nur bekommen, was sie verdient haben. Ich traue meinen Ohren nicht: Da sitzt dieser sympatische alte Mann vor mir und versucht, mir die Schuldgefühle zu nehmen, die ich ja ganz offenbar habe. "Ich fühle mich nicht schuldig, bin aber ebenso wenig stolz auf die NS-Zeit." Das versteht er überhaupt nicht. Er muss mich jetzt erstmal darüber aufklären, dass das mit den Juden in Deutschland ja nicht schlimmer war als vieles andere, was in der Geschichte passiert ist. "George Bush ist auch nicht besser als Hitler." Aber: Hinter der amerikanischen Kriegspolitik stecken diese ganzen Juden, die Amerika wegen Geld in den Krieg treiben und unschuldige Menschen töten lassen. Und dann die Palästinenser und die Israelis. Wo man hinguckt sind die Juden schuld an Krieg und Unrecht, schon immer, denn die haben schließlich auch Christus umgebracht. Er weiß das, er hat nämlich nebenher auch Religionswissenschaft studiert und liest ohnehin viel. Er hat ja gar nichts gegen Muslime, Christen, Hindus, er kann alle Menschen und Religionen tolerieren, aber die Juden ... Er redet ohne Unterbrechung, mit glänzenden Augen und einem leichten Lächeln um den Mund. Ich habe keine Gelegenheit, auch nur einmal zu unterbrechen und irgendwie ist es auch interessant, wie er so ganz frank und frei heraus seine Meinung preisgibt, denn in mir als Deutscher muss er doch sicherlich eine Gleichgesinnte gefunden haben. Nachdem er mir sein Allgemeinwissen über Gott und die Welt kundgetan hat, frage ich ihn, ob er wirklich glaubt, das jüdische Volk sei der Ursprung alles Bösen in der Welt. - Ja, das glaubt er.
Dass ich dann einfach aufstehe, das Geld hole, welches er für seine medizischen Heilkünste mehr oder minder verdient, und ihm dabei sage, dass ich mir dieses Gerede nun lange genug angehört habe, deckt sich offenbar nicht mit der Reaktion, die er erwartet hatte. In Windeseile schließt er darauf, dass das Kompliment aus irgendeinem Grund nicht als solches bei mir angekommen ist und beginnt sich zu entschuldigen, wobei ihm wohl nicht klar ist, was da gerade schief gelaufen ist, wo er doch einen so überzeugenden Monolog gehalten hat. - Er hat das alles ja nicht so gemeint. - Ja, dann soll er mal besser vorsichtig sein, welche Meinungen er wem gegenüber äußert. - Er mag Deutschland ja auch, weil er von deutschen Ärzten so viel gelernt hat, als er in Saudi-Arabien war. - Ja, wie schön. Wir stehen schon in der Tür, da klingelt sein Handy und beendet die gesamte Situation zur Erleichterung aller Beteiligten. Für das Gespräch, das ihn zum nächsten Patienten ruft, tritt er auf den Flur hinaus und schon ist die Tür zu.

Was soll ich sagen???

Hätte ich ihn gleich nach den ersten Sätzen rausschmeißen sollen? Dafür war die Situation zu einmalig, da wollte ich schon mehr von seiner Meinung hören, sozusagen um das ganze Ausmaß der Katastrophe zu erfassen. Bis zu einem gewissen Punkt war es interessant. Und es war amüsant zu sehen, wir er sich immer mehr in seine Belehrungen hineinsteigerte und mir ein Verständnis für seine bereitwillig mit mir geteilten Erkenntnisse zu vermitteln versuchte. Hätte ich mit ihm diskutieren sollen? Das hätte wohl wenig genutzt. Erstmal war er ja in seinem Redeschwall ohnehin nicht zu unterbrechen, außerdem hatte er ja Religionswissenschaften studiert, er wusste also schon alles, was hätte ich als junge Frau ihm als Religionsdoktor da erklären können, und außerdem: Was muss ich mir morgens um halb zehn, mit Kopfschmerzen und Husten und Schniefnase, solch einen Quatsch anhören? Und das nur, weil ich Deutsche bin??? Na, schönen Dank!

Das Ganze hat sich schließlich als überflüssig erwiesen: Heute geht es mir schon viel besser, auch ohne Medikamente vom Herrn Doktor, der anfangs so sympatisch schien und letztlich so unangenehm auffiel. Wo er doch so Deutschland-begeistert ist, könnte er sich ja auch mal mit klassischer deutscher Aufklärung befassen, schließlich liest er ja so viel. Dann würde ich ihm Lessing empfehlen, Nathan der Weise und hoffen, dass er es schafft, vor Gott (und damit ist kein bestimmter Gott gemeint) und den Menschen (und damit sind alle Menschen gemeint) angenehm zu werden.

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